Jean Müller – beim Entscheidungsspiel hatte er seinen grossen Tag
Jean Müller
Dienstag, 07.09.2021 // 16:40
Uhr
Zum Anfang seiner Karriere musste Jean Müller noch oft hinter den beiden Torhütern Marcel Kunz und Jean-Paul Laufenburger zurückstehen. Doch dann kam die Saison 1976/77, in der der FC Basel ein veritables Fussballmärchen schrieb. Am Ende einer ellenlangen Saison stand ein Entscheidungsspiel FC Basel-Servette bevor. Es war das Spiel der Spiele – mit Jean Müller im Tor.
Ein kompletter Torhüter muss mutig und reaktionsschnell sein, er sollte auf der Linie bärenstark sein und überdies über gute Reflexe verfügen. Auch muss er seinen Strafraum beherrschen und für seine Vorderleute auch eine gewisse Sicherheit ausstrahlen. All diese Vorgaben galten damals wie heute. Aber es ist schon so, gegenüber früheren Jahren hat sich für die Torhüter einiges geändert. Konnte der Goalie beispielsweise einst den Ball nach einer Rückgabe des Verteidigers gemütlich aufnehmen, so muss er nach einer umfassenden Regeländerung heute darauf verzichten und dafür beidfüssig mit dem Ball gut umgehen können. Auch im Parieren von Schüssen sind zwei, drei neue Dinge hinzugekommen. Früher waren Boxeinlagen im Spielerpulk nach Freistössen und Eckbällen sowie Flugparaden Standard – das waren die sogenannten Robinsonaden, benannt nach dem englischen Keeper Jack Robinson.
Dass man Abschlüssen aus naher Distanz durch geschicktes Verkürzen des Winkels entgegenwirken kann, ist allseits bekannt. Moderne Torhüter brillieren heutzutage mit einem Abwehrverhalten im Stil eines Handball-Goalies – man sieht dies sehr schön etwa bei Manuel Neuer von Bayern München, Samir Handanovic von Inter, Thibaut Courtois von Real Madrid, Keylor Navas von Paris St-Germain oder Yann Sommer von Borussia Mönchengladbach.
Jean Müller interessiert sich noch immer sehr für den Fussball, aber er geniesst auch gemütliche Begegnungen mit seinen Töchtern und deren Familien. Unterdessen ist er auch Grossvater geworden.
Bei Fernschüssen geht es darum, die Flugbahn des oft flatternden Balles gut zu berechnen und gegebenenfalls überzugreifen. Die Flugbahnen der Bälle verlaufen heute aufgrund der speziellen Beschaffenheit des jeweiligen Balls bekanntlich ganz anders als früher. Am besten zeigen lässt sich dies beim Treffer des damaligen Schachtjor-Donetzk-Akteurs Fernandinho gegen Franco Costanzo im St. Jakob-Park, bei dem der Ball im letzten Moment noch leicht wegdrehte. Solche Dinger lassen sich in der Kategorie der Unhaltbaren einreihen. Jean Müller kennt diese Finessen aus dem Effeff. Er hat beide Zeiten, die alte Zeit und die neue Zeit miterlebt ¬ die eine als Torhüter, die andere als Torhütertrainer.
Startschuss als Junioren-Natikeeper
Jean Müllers Karriere begann bei den FCB-Junioren – über die B-Junioren und die A-Junioren Interregional («Wir wurden mit diesem Team Schweizer Meister») arbeitete er sich langsam und beharrlich nach oben. Er kam in die Junioren-Nationalmannschaft und wurde mit 17 Jahren dritter Torhüter des FC Basel. Sein erstes Spiel mit dem Fanionteam der Rotblauen erlebte Jean Müller 1973 auf der Pontaise in Lausanne, dem heutigen Heimstadion des Challenge-Ligisten Stade Lausanne-Ouchy. Damals trat der FCB gegen Lausanne-Sports an. FCB-Stammgoalie Kunz war verletzt, sein Ersatz Jean-Paul Laufenburger musste nach 30 Minuten das Spielfeld angeschlagen verlassen. Jean Müller wurde eingewechselt. «Es lief mir sofort gut, für mich war es eine Art Schlüsselspiel», berichtet er. «Mit dem Schweden Ove Grahn lieferte ich mir damals einige Luftduelle.» Der Match endete mit einem 0:0.
Später dann änderte sich die Torhütersituation in Basel dahingehend, dass Marcel Kunz weiter unter Vertrag blieb und dass Jean-Paul Laufenburger ins Elsass (zum FC Mulhouse) wechselte. So rutschte Jean Müller auf die Position 2 nach. Zu diesem Zeitpunkt zählte er 19 Lenze. Marcel Kunz war damals als Nationaltorhüter und FCB-Meister-Goalie an sich gesetzt, doch er plagte sich gegen Ende seiner Karriere immer mehr mit Verletzungen herum.
FCB-Goalie Jean Müller (hier in einem Match gegen den Grasshopper Club Zürich) sah sich im Verlauf seiner langen Karriere verschiedentlich mit kniffligen Konkurrenzsituationen konfrontiert.
Als er dann in der Saison 1974/75 mit einer Meniskusverletzung längere Zeit ausfiel, war der Weg frei für Jean Müller. In einem FCB-Ensemble, welches sich nach zahlreichen Titeln in einem Art kreativen Wellental befand, bot der Jungspund einige ausgezeichnete Leistungen, aber einige Spiele gingen auch verloren.
Prompt waren die vereinigten Basler Federfuchser am Start und werweissten über die Gründe für die unterschiedlichen Leistungen. «Ich hatte als junger Goalie immer Druck von der Presse», bekennt Müller heute, «es wurde geschrieben, der FCB soll doch entsprechend seinem Renommee einen gestandenen Nationalmannschaftsgoalie engagieren. Aber die Fans waren immer hinter mir». Speziell im Schweizer Cup konnte sich Jean Müller auszeichnen. Im Achtelfinal gegen den FC Zürich hielt er auf dem Letzigrund sogar einen Penalty. Auch in den beiden Viertelfinals gegen Etoile Carouge stand er im Tor. Doch in den beiden Cuphalbfinals gegen Chênois und im Cupfinal gegen den FC Winterthur (der FCB gewann 2:1 nach Verlängerung) durfte dann wieder Marcel Kunz – obwohl er nur halbfit war – spielen. «Ich hatte in dieser Cupkampagne meinen wichtigen Beitrag zum Erfolg geleistet. Für mich war das unverständlich, dass ich im Final nicht zum Einsatz kommen konnte», resümiert Müller. An derlei Episoden sieht man, wieviel Geduld und Opferbereitschaft ein Torhüter bisweilen aufwenden muss, um dereinst einmal, am Ende des Tages, als Nr. 1 zwischen den Pfosten stehen zu können.
Der ganz grosse Auftritt
Drei volle Saisons bestritt der reflexschnelle Keeper mit den Rotblauen. Die Saison 1976/77 war eine Saison mit einem äusserst engen Verlauf. Sämtliche Spitzenmannschaften lagen ganz nahe beieinander. Schliesslich wurde ein Entscheidungsspiel um den Titel eines Schweizer Meisters fällig. Der FC Basel traf dabei auf die punktgleichen Grenats von Servette Genf. Besagter Match ging auf neutralem Terrain auf dem Berner Wankdorf in Szene. Die Männer vom Genfersee mit Torhüter Karl Engel, und den Cracks Lucio Bizzini, Didi Andrey, Joko Pfister, Kudi Müller und Martin Chivers (einst englischer Nationalstürmer) traten als haushohe Favoriten auf. Doch in Basel war man trotz dieser Ausgangslage zuversichtlich. «Kraft, Nerven, Glück entscheiden den Final», titelte Rodolphe Ackermann in der «Basler Zeitung» kurz vor dem entscheidenden Kräftemessen.
Riesenjubel der Basler rund um Jean Müller (Bildmitte) nach dem sensationellen 2:1-Erfolg gegen die Servettiens in Bern.
Sage und schreibe 50’000 Zuschauer strömten an einem Dienstagabend nach Bern – die meisten von ihnen waren in rotblau gekleidet. Es herrschte eine Stimmung zwischen Morgestraich und Cupfinal. Die Bebbi-Fans waren wild entschlossen genügend Tore herbeizubrüllen, damit es für den Titel reichen möge. Doch zunächst hatte Bernard Thurnheer, welcher den Match fürs Schweizer Radio kommentierte (die Originalaufnahme dieses Matchs befindet sich im Archiv des Schreibenden), für die zuhause gebliebenen Basler wenig Erfreuliches zu berichten. Kudi Müller hatte nämlich in seiner unnachahmlichen Manier abgedrückt und seine Farben in Führung geschossen. Doch zum Glück hatten die Rotblauen einen Walter Mundschin. Der Fels in der Brandung stieg in der 37. Minute turmhoch und köpfelte den Ball wuchtig unter die Latte. Damit stand die Partie ausgeglichen 1:1. Und dann brach jene legendäre 75. Minute an, mit einem Freistoss von Eigil Nielsen auf Markus Tanner. Tanner schoss aber nicht, obschon er Gelegenheit gehabt hätte, sondern leitete den Ball geistesgegenwärtig zu Arthur Von Wartburg weiter. Dieser wiederum nutzte seine Chance sofort. «Toooooor durch Von Wartburg – 2:1 für den FC Basel», röhrte Thurnheer in diesem Moment mit Tremolo-Stimme im Radio. Auch der gebürtige Winterthurer war hingerissen von der Basler Spielstärke.
Entscheidendes Spiel gegen Zürich im Jahre 1980 – der FCB gewinnt 4:2 und krönt sich zum Schweizer Meister. Hier nimmt Jean Müller die Gratulationen von Arthur Von Wartburg entgegen.
Nach diesem Torerfolg brachen für die Rotblauen und ihre zahlreichen Schlachtenbummler dann allerdings bange Minuten an. Aus allen Rohren und im Minutentakt feuerten die die Genfer auf den Basler Kasten. Mit aller Macht wehrten sie sich gegen die drohende Niederlage. Die Basler Abwehr wurde zeitweise fast erdrückt. Jean Müller hatte Arbeit in Hülle und Fülle – nur langsam rückte die Stadionuhr vorwärts. Müller im Basler Goal hielt in dieser Phase etwa vier oder fünf unmögliche Bälle. Glänzend disponiert sauste er links und rechts in die Torecken, er boxte Bälle weg, zudem warf er sich in jeden Schuss. Unerschrocken hechtete er anstürmenden Servettiens in die Füsse und fing auch reihenweise Flanken ab. Zum Schluss gelang ihm einfach alles. Im wichtigsten Match seiner Karriere vermochte er eine derart sichere Leistung zu bringen, dass die Basler am Schluss ausgelassen jubeln konnten. «Der FC Basel in grossem Stil», hiess es anschliessend voller Bewunderung in den Zeitungen. Jean Müller hatte es allen gezeigt.
Vom Goalie zum Torhütertrainer
Auf die Saison 1977/78 verpflichtete der FC Basel trotz Müllers Grosstaten dann doch noch einen weiteren Top-Goalie. Hans Küng stiess von Neuchâtel Xamax zum FCB, und er wurde notabene als Nr. 1-Goalie geholt. Jean Müller hatte zum Zeitpunkt dieses Engagements seinen Vertrag mit den Baslern bereits verlängert. Ein Wechsel kam für ihn somit nicht mehr in Frage. Trotz diesen Konkurrenzsituationen konnte er mit dem FCB im Lauf der Zeit manchen spannenden Match absolvieren, auch im Europacup gegen Glentoran Belfast, Atletico Madrid und Athletic Bilbao sowie im Alpencup gegen Lyon, Bastia, Metz, Reims, Strasbourg, Nantes und Nîmes.
Jean Müller gehörte zu den FCB-Meisterhelden im denkwürdigen Entscheidungsspiel vor 50'000 Zuschauern gegen Servette Genf in Bern.
Nach dem Ende seiner Aktivkarriere avancierte der erfahrene Keeper und Familienvater (Töchter Melanie und Marisa) zum Torhütertrainer. So hat er sowohl Stefan Huber (FCB-Held vom Match in Kriens) als auch Thomas Grüter trainiert – mehr noch: Er war in der Schweiz einer der Ersten, die sich wirklich für ein spezifisches Torhütertraining stark gemacht haben. Heute schaut er gerne Spiele der verschiedenen europäischen Wettbewerbe am Fernsehen an. Natürlich beobachtet er dabei die weltbesten Goalies wie Jan Oblak (Atletico Madrid), Edouard Mendy (Chelsea), Ederson (Manchester City), Thibaut Courtois (Real Madrid), Geronimo Rulli (Villarreal), David de Gea (Manchester United), Samir Handanovic (Inter), Gianluigi Donnarumma (Paris St. Germain), Wojciech Szczesny (Juventus Turin), Keylor Navas (Paris St. Germain), Marc-André ter Stegen (Barça), Mike Maignan (Milan), Tomas Vaclik (Olympiakos Piräus), Kasper Schmeichel (Leicester City) und Manuel Neuer (Bayern München) mit Argusaugen, aber er betont: «Auch die Schweiz hat starke Torhüter – ich denke da vor allem an Yann Sommer, aber auch an Gregor Kobel, Yvon Mvogo, Jonas Omlin und Marvin Hitz».
Name: Müller
Vorname: Jean
Geburtstag: 17. Juli 1954
Position: Torhüter
Vereine:
FCB-Junioren (FCB B-Junioren und FCB A-Junioren Interregional) 1968-1971
FC Basel 1893 1972/73-1983/84
FC Laufen 1984/85-1985/86
Juniorennationalmannschaft
Erfolge:
Cupsieger 1975 (bei Halbfinal und Final nicht im Einsatz).
Schweizer Meister 1972/73, 1976/77 und 1979/80.
Europacupspiele gegen Glentoran Belfast, Athletic Bilbao und Atletico Madrid.
Alpencupspiele gegen Lyon, Bastia, Metz, Reims, Strasbourg, Nîmes und andere.
Bisher porträtierte Spieler
Pascal Zuberbühler (28. August 2014), Roland Paolucci (3. Oktober 2014), Christian Giménez (29. Dezember 2014), Martin Andermatt (12. Februar 2015), Nestor Subiat (18. März 2015), Erni Maissen (6. Mai 2015), Eigil Nielsen (16. Juli 2015), Maximilian Heidenreich (4. September 2015), André Sitek (13. November 2015), Papa Malick Ba (13. Januar 2016), Bruno Sutter (26. April 2016), Argemiro Veiga (24. Juni 2016), Carlo Porlezza (6. September 2016), Markus Tanner (10. November 2016) und Martin Jeitziner (14. Februar 2017), Attila Sahin (17.April 2017), Hervé Tum (21. Juni 2017), Arthur von Wartburg (7. September 2017), Scott Chipperfield (15. November 2017), Reto Baumgartner (11. Februar 2018), Walter Mundschin ( 29. März 2018), Thomas Hauser (3. Juni 2018), Stefan Huber (8. August 2018), Adrian Knup (13. Oktober 2018), Alex Nyarko (28. Dezember 2018), Helmut Hauser (28. März 2019), Peter Bernauer (9. Juni 2019), Marco Zwyssig (21. August 2019) Lars Olsen (15. Oktober 2019), Ottmar Hitzfeld (16. November 2019), Thimotée Atouba (30. Januar 2020), Franco Costanzo (22. April 2020), Jörg Stohler (16. Juli 2020), Kurt Stettler (9. Oktober 2020), Mike Speidel (29. Dezember 2020), Örjan Berg (15. April 2021) und Hakan Yakin (4. Juni 2021).
Text: Lukas Müller
Farbfoto: Josef Zimmermann
Schwarzweissfotos: zVg